29 November 2021 - Es ist wichtig zu verstehen, dass Nächstenliebe die Grundlage des Christentums ist und dass wir das Gebot der Liebe zum Nächsten in unserem Leben umsetzen
29. November 2021 – Am 23. Sonntag nach Pfingsten feierte Erzbischof Tichon die Göttliche Liturgie in der Auferstehungskathedrale in Berlin und predigte über das Sonntagsevangelium
Die heutige Evangelienlesung erzählt uns davon, liebe Brüder und Schwestern, wie ein Gesetzesgelehrter zu Jesus Christus kam und Ihn fragte: „Wer ist mein Nächster?“ (Lk 10,25-37). Es ist heute schwer herauszufinden, wer für uns der Nächste ist. Es ist nicht deshalb schwer, weil die Zeiten schlecht sind, sondern weil wir gleichgültig, apathisch, egoistisch geworden sind. Die gesamte Menschheit auf der Erde ist heute aus verschiedenen Gründen gespalten, was die Antwort auf die Frage noch schwerer macht: Wer ist mein Nächster? Doch diese Frage ist längst geklärt. Man muss nur die Worte der Heiligen Schrift beachten und aus ihr – wie aus einer Quelle – alles schöpfen, was notwendig ist für das Heil der Seele und das ewige Leben.
Der Schriftgelehrte, so hören wir heute, versuchte, Jesus Christus zu versuchen und fragte: „Lehrer! Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ – „Liebe den Herrn, deinen Gott, von deinem ganzem Herzen, von deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und von deinem ganzen Gemüt, und liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, lautete die Antwort des Herrn. Da sagte der Gesetzgelehrte, um sich zu rechtfertigen, dass er diese Hauptgebote kenne, und fragte weiter: „Wer ist mein Nächster?“ Der Herr antwortete ihm und erzählte das Gleichnis von dem Mann, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho war und in die Hände von Räubern fiel, verwundet und ausgeraubt wurde. An dem Verwundeten gingen sowohl ein Levit wie ein Priester gleichgültig vorbei, und nur ein Fremdstämmiger, ein Samariter, beachtete den Verwundeten und erwies ihm Hilfe. Der scheinbar am weitesten entfernte Mensch wurde zum allernächsten, weil er Barmherzigkeit gezeigt und den Mann gerettet hat.
Im Alten Testament, Brüder und Schwestern, wurden, um das auserwählte Volk Gottes vor bösen Einflüssen zu schützen, Unterscheidungen zwischen den Menschen in seiner Umgebung festgesetzt, und als „Nächste“ galten für einen Juden nur Landsleute und Glaubensgenossen. Das neutestamentliche Moralgesetz aber hebt all diese Unterscheidungen auf und lehrt die Liebe des Evangeliums ohne Ausnahme zu allen Menschen. In Christus sind alle Menschen Kinder des Einen Himmlischen Vaters. Der Samariter hatte besser als der Priester und der Levit verstanden, dass es im Hinblick auf die Erfüllung des Gebotes der Barmherzigkeit keine Unterschiede zwischen den Menschen gibt: Alle Menschen sind unsere Nächsten. „Deshalb“, so sagt ein Ausleger, „sollen wir nicht auf die Menschen schauen, sondern auf unser eigenes Herz, damit darin nicht die Kälte des Priesters und des Leviten ist, sondern die Barmherzigkeit des Samariters.
Durch dieses Gleichnis sagt uns der Herr, was es bedeutet, zu „lieben“ und wie weit die Liebe sich erstrecken muss. Niemand wird allein dadurch gerettet, dass er den Willen Gottes kennt, sondern indem er ihn erfüllt. Wenn wir einen Blick auf unser Leben werfen, werden wir erkennen, dass wir in ihm oft verwundete Menschen treffen, die Hilfe, ein gutes Wort oder eine anteilnehmende Beziehung brauchen. Allen Gutes zu tun, ist Pflicht des Christen. Unter christlichem Gesichtspunkt kommt es nicht auf den Umfang der Hilfe an, sondern auf die Herzensbewegung, die Bereitschaft, die Ansprechbarkeit, mit der die Hilfe geleistet wird. „Das wahre Maß der Verwandtschaft, das Menschen und Völker wirklich vereint und zusammenführt, ist nicht so sehr das Blut, sondern die Barmherzigkeit. Das Unglück des einen und die Barmherzigkeit des anderen Menschen machen sie zu Verwandten und zu Nächsten, mehr als das Blut leiblicher Brüder … Geistige Zwillinge, die durch das Zusammentreffen von Unglück und Barmherzigkeit geboren werden, bleiben Brüder in Ewigkeit“, lehrt der heilige Nikolaj von Serbien.
Es ist wichtig zu verstehen, Brüder und Schwestern, dass Nächstenliebe die Grundlage des Christentums ist und dass wir das Gebot der Liebe zum Nächsten in unserem Leben umsetzen. Wenn wir uns umschauen, werden wir sehen, dass es in unserem Leben eine Fülle von Anlässen für Wohltätigkeit und Barmherzigkeit gibt. Versuchen wir also, dem barmherzigen Samariter nachzueifern. Erinnern wir uns immer daran, dass unser Nächster derjenige ist, der uns auf unserem Weg begegnet, der unser gutes Wort, unsere Fürsorge und Hilfe braucht. Beeilen wir uns, das zu tun, was gut und gottwohlgefällig ist, indem wir das tun, was der Herr uns befohlen hat. Lasst uns lieben „nicht mit Worten und der Zunge, sondern mit Taten und der Wahrheit“ (1 Jo 3,18). Amen.