05 Mai 2023 - Ein wahrer Christ ist derjenige, der Gott und Seinem Wort nicht auf Grund eines Wahrheitsbeweises glaubt, sondern aus Liebe zu Gott und zur Wahrheit
Am 23. April 2023, dem zweiten Sonntag nach Ostern, dem Tag des Antipascha, feierte Erzbischof Tichon von Rusa, Leiter der Diözese von Berlin und Deutschland, die Göttliche Liturgie in der Auferstehungskathedrale in Berlin. Die Kathedrale feiert an diesem Tag, dem Tag des Antipascha, ihr Patronatsfest. Erzbischof Tichon wandte sich nach dem Kommunionvers mit seinem erzhirtlichen Wort an die Teilnehmer des Gottesdienstes:
„Christus ist auferstanden!
Im Leben eines Christen, Brüder und Schwestern, ist jeder Tag wertvoll und wichtig. Aber es gibt immer den Tag, der sich von allen anderen Tagen der Woche abhebt und eine herausragende Bedeutung hat. Dieser Tag ist der Sonntag, der Auferstehungstag. An diesem Tag fand das größte Ereignis in der Geschichte des Menschengeschlechtes statt, die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus. Diese Wahrheit ist das Fundament des christlichen Glaubens (1 Kor 15,17), und wir bekräftigen unseren Glauben an die Wahrheit der Auferstehung des Gottessohnes im Gottesdienst mit den Worten: „Nachdem wir die Auferstehung Christi gesehen haben, lasst uns den Heiligen Herrn Jesus anbeten…“. Mit den geistigen Augen, mit den Augen des Glaubens, sehen wir dieses geheiligte Ereignis: Wir sehen es mit den Augen der Apostel, der Myrrhen tragenden Frauen, der Jünger und derer, die mit Christus zusammen waren, mit Ihm gesprochen und geglaubt haben. Zur Festigung in der Wahrheit der Auferstehung haben die Augenzeugen Christi, die Evangelisten, es für die kommenden Generationen aufgeschrieben.
Wie viel Freude und Leben, Brüder und Schwestern, tragen in sich die kurzen Worte „Christus ist auferstanden!“ Doch an jenem Tag war niemand von den Menschen, waren nicht einmal die Jünger Christi in der Lage, dies Ereignis sofort zu begreifen und daran zu glauben. Deshalb ist Christus am ersten Tag Seiner Auferstehung den Aposteln erschienen, um ihre Zweifel zu zerstreuen. Der Herr wollte, dass alle Seine Jünger von Seiner Auferstehung wussten und sich darüber freuten. Vor allen anderen erschien Er Maria Magdalena, als sie am leeren Grab weinte und dachte, dass irgendjemand den Herrn weggenommen habe; ein anderes Mal erschien Er ihr zusammen mit den anderen Frauen, dann dem Apostel Petrus und den zwei Jüngern Lukas und Kleopas auf ihrem Weg von Jerusalem nach Emmaus und schließlich am selben Abend fast allen Aposteln, die in einem Obergemach versammelt waren. Nur Thomas war nicht mit ihnen und hatte den Herrn nicht gesehen. An die Überzeugung des Apostels Thomas von der Wahrheit der Auferstehung Christi erinnert die Kirche am achten Tag nach Ostern.
Auf die freudigen Worte der Jünger, sie hätten den Herrn gesehen, antwortete Thomas: „Wenn ich nicht an Seinen Händen die Wunde der Nägel sehe und meinen Finger in die Wunden der Nägel und meine Hand in Seine Seite lege, glaube ich nicht“ (Jo 20,25). Für Thomas war das Zeugnis der anderen Apostel von der Auferstehung des Herrn nicht hinreichend, er wollte sich durch sein eigenes Fühlen von der Wahrheit überzeugen. Der Auferstandene Herr versagte dies seinem Jünger nicht. Am achten Tag nach der Auferstehung trat Er erneut durch die verschlossenen Türen in das Haus, in dem die Jünger versammelt waren, und wandte sich an Thomas: „Du wolltest Mich sehen und berühren“, so sagte der Herr zu ihm gewissermaßen, „sieh und berühre! Du wolltest die Wunden an meinen Händen berühren? Schau auf Meine Hände an, reiche deine Hand und lege sie in Meine Seite. All das erlaube Ich dir, aber verbleibe nicht im Unglauben“. Als er die Wunden des auferstandenen Herrn berührte, rief Thomas aus und brachte seinen Glauben mit dem freudigen Bekenntnis zum Ausdruck: „Mein Herr und mein Gott!“ (Jo 20,28).
Einem jedem Menschen, Brüder und Schwestern, erlaubt der Herr, die Wahrheit zu erkunden: Möge das Auge sehen, mögen die Hände berühren, und alle Sinne dazu dienen, die Wahrheit zu erkennen. Aber mögen sie die Sinne erkunden mit Demut, mit reinem Herzen, mit guter Absicht. „Skrupellose Neugier“, so betont der Ausleger, „wird gefährlich, wenn sie es wagt, unzugängliche Wahrheiten zu erforschen, und sie wird schuldig, wenn sie die Wahrheit nicht dazu ergründet, um sie zu erlangen, sondern um das Vertrauen der anderen in sie zu erschüttern“.
Der Herr lobte Thomas nicht für einen Glauben, der auf sinnenhafter Erkenntnis beruhte. „Du hast geglaubt, weil du mich gesehen hast“, sagte ihm der Herr, „selig aber sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Jo 20,27). Unser Glaube ist nicht groß, wenn wir nur das glauben, was wir sehen. Einen solchen Glauben hat jeder Mensch; und selbst Atheisten zweifeln nicht an dem, was sie mit ihren Augen sehen und mit ihren Händen fühlen. Wir als Christen sollen einen Glauben haben an das, was wir nicht sehen oder ergreifen können. Warum? – Weil die wichtigsten Wahrheiten unseres Glaubens der Erfahrung und der Vernunft nicht zugänglich sind. Wir bekennen einen unsichtbaren und unbegreiflichen Gott und erwarten im zukünftigen Zeitalter solche Güter, von denen wir uns keine klare Vorstellung machen können. Ein wahrer Christ ist derjenige, der Gott und Seinem Wort nicht auf Grund eines Wahrheitsbeweises glaubt, sondern aus Liebe zu Gott und zur Wahrheit. Denn einen solchen Glauben nennt der Heiland selig.
Wenn der Unglaube des Thomas in den Worten der Kirchenhymnen „gut“ genannt wird, dann gibt es augenscheinlich auch einem bösen Unglauben, Brüder und Schwestern. Er nistet sich in der Regel in einem vom Bösen verderbten Verstand und einem verdorbenen Herzen ein. Er beginnt damit, dass der Mensch zuerst Gott vergisst, dann die Kirche und den Gottesdienst verlässt, aufhört, zu Hause zu beten und am Leben der Kirche teilzuhaben. Nach dem Wort der heiligen Vätern ist das erste Anzeichen für die Erkrankung der Seele, wenn ein Mensch das kirchliche Gebet einstellt. Um nicht vom Glauben abzufallen, Brüder und Schwestern, lasst uns nicht unter irgendeinem Vorwand die Gottesdienste, die Mysterien der Kirche und das häusliche Gebet aufgeben. Lesen wir öfter das Evangelium, die Belehrungen der Heiligen Väter und die Viten der Heiligen, die uns helfen, uns die Wahrheiten des christlichen Glaubens zu eigen zu machen und wohlgefällig zu leben. Bitten wir den Herrn inständig, dass Er unsere Herzen rein mache (Ps. 50, 12), unseren Geist öffne, die Schrift zu verstehen, an Ihn zu glauben und nach dem Evangelium zu leben, in der Hoffnung, das Heil und das ewige Leben zu erben. Amen.“