13 Oktober 2024 - Das Wesen des christlichen Glaubens besteht also in der Liebe
Am 13. Oktober 2024, dem 16. Sonntag nach Pfingsten, am Gedenktag des heiligen Bischofs Michail, des ersten Metropoliten von Kiev, feierte Erzbischof Tichon von Ruza, der Vorsteher der Diözese von Berlin und Deutschland, die Göttliche Liturgie in der Kathedraldomkirche der Auferstehung Christi in Berlin.
Am Vorabend leitete Erzbischof Tichon den Gottesdienst der Allnächtlichen Vigil in der Kathedrale.
Seiner Eminenz konzelebrierten Erzpriester Michail Divakov, der Sekretär der Diözese, Priestermönch Ilarion (Rezničenko), Erzdiakon Vitalij Sadakov und Erzdiakon Archil Chkhikvadze.
Nach dem Kommunionvers wandte sich der Erzhirte an die Gläubigen mit den Worten:
„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Die heutige Lesung aus dem Sonntagsevangelium, liebe Brüder und Schwestern, spricht von unserer christlichen Verpflichtung untereinander und gegenüber allen Menschen; sie spricht von der Essenz des Christentums – von der Liebe, die das wichtigste Zeichen dafür ist, dass wir Jünger Christi sind. So viele falsche Lehren über die Wahrheit Christi es gibt, so viele verzerrte Vorstellungen existieren auch von der Liebe, denn die Liebe und dieWahrheit sind untrennbar. Um lieben zu lernen, muss sich jeder von uns zwingen, nach dem Gesetz Gottes zu leben (Jo 14,21).
Hören wir, was der Herr Jesus Christus sagt. „Wie ihr wollt, dass die Menschen euch tun, so tut auch ihr ihnen“ (Lk 6,31). Was bedeutet das? – Es bedeutet, dass ihr das, was ihr euch selbst wünscht, auch für andere wünscht. Und umgekehrt: Was ihr euch selbst nicht wünscht und nicht tut, das wünscht und tut auch anderen nicht. Das heißt, der Herr lehrt uns, alle Menschen so zu behandeln, wie wir von ihnen behandelt werden möchten. Der Maßstab für unsere Beziehung zu allen Menschen ohne Ausnahme sollen Respekt, Entgegenkommen, Barmherzigkeit und Nachsicht sein.
Christus sagt weiter: „Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden. Vergebt, und euch wird vergeben werden. Gebt, und es wird euch gegeben werden. Mit welchem Maß ihr messt, werdet auch ihr gemessen werden“ (Lk 6,37-38). Jeder möchte, dass die Menschen ihm seine Sünden vergeben; das heißt, er soll auch den anderen ihre Versündigungen vergeben. Jeder möchte, dass man mit seinem Kummer mitfühlt und sich in seiner Freude freut – so sollte auch er mit dem Kummer der Menschen mitfühlen und sich in ihrer Freude freuen. Lasst uns erkennen, dass wir alle unsere Unzulänglichkeiten haben. Wir alle sündigen, machen Fehler, begehen unüberlegte und sogar schlechte Taten. Was kann diese Unzulänglichkeiten überdecken außer der Liebe? Wer kann uns vergeben, wenn nicht derjenige, der uns liebt? Deshalb rät der Apostel Paulus, einander mit aller Demut, Sanftmut, Langmut und Liebe zu begegnen (Eph 4. 2) und befiehlt: „Alles bei euch geschehe mit Liebe“ (1 Kor 16,14).
Alle Weisen der Welt vor Christus haben die Regel aufgestellt, anderen nichts Böses zu tun. Aber Christus geht in dem, was dieselbe Regel zu sein scheint, noch weiter. Er befiehlt uns, nicht nur diejenigen zu lieben, mit denen wir verbunden sind durch die Bande der Verwandtschaft oder Freundschaft, sondern sogar unsere Feinde zu lieben. Vor Christus kam niemand auch nur annähernd dazu so zu denken. „Liebet eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas zu erwarten; so werdet ihr euren Lohn haben vom Vater im Himmel“ (Lk 6,35), gebietet der Herr. Die christliche Liebe muss höher sein als die gewöhnliche menschliche. Sie soll sich nicht nur auf die Seinen erstrecken, sondern auch auf die Fremden, nicht nur auf die Freunde, sondern auch auf die Feinde. Der Herr selbst hat diese Liebe am Kreuz offenbart, damit alle sie sehen.
Manchmal kommt es vor, dass wir unseren Nächsten vorschnell als Feind bezeichnen, als den, der uns beleidigt oder beleidigt hat, der uns gewollt oder ungewollt Unannehmlichkeiten bereitet und uns verletzt hat. Wir sollten jedoch wissen, dass es der Urfeind des Menschen, der Teufel, ist, der unserer Seele und unserem Heil schadet, der uns hasst und sich bemüht, uns das Leben zu nehmen. Die Liebe zu den Irrenden, unseren persönlichen Feinden, soll darin bestehen, keine Rache zu nehmen, sondern Gutes zu tun, geduldig zu sein und für sie zu beten.
„Ohne das Gebet des ersten Martyrers, des Erzdiakons Stephanus“, bemerkt der Goldmund, „eines Gebetes voller Liebe gegenüber denen, die ihn steinigten: ‚Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an‘, wäre aus dem Verfolger Saulus wäre nicht der Apostel Paulus geworden“. Ein anderes Beispiel: Ein heidnischer Kaiser übergab Fausta, ein junges Mädchen, eine Christin, der Folterung durch einen grausamen Peiniger. Während der schrecklichen Folterungen betete das junge Mädchen Fausta für ihren Peiniger: Ihre Sanftmut und ihr Gebet erschütterten den Schergen so sehr, dass er sich selbst zu Christus bekehrte, sich als Christ bekannte und zusammen mit dem jungen Mädchen die Krone des Martyriums annahm.
Die Mutter des ehrwürdigen Feodosij vom Hühlenkloster war dagegen, dass ihr Sohn den Weg zum monastischen Leben einschlug. Sie schlug ihn wiederholt. Der Sohn reagierte auf die Schläge mit dem Gebet für seine Mutter – und was dann? Später empfing die Mutter selbst die monastische Tonsur in einem der Kiever Klöster. Das ist die Macht der Liebe und des Gebets, das von der Liebe Christi erfüllt ist.
Das Wesen des christlichen Glaubens besteht also in der Liebe. Wir sind gerufen, Brüder und Schwestern, zu lieben, und wir müssen lernen, bestündig zu lieben, im Laufe unseres ganzen Lebens. Versuchen wir, alle Menschen wie uns selbst zu lieben, sowohl die Seinen wie auch die Feinde – die Übeltäter, die Missgünstigen, die Beleidiger. Lieben heißt, ihnen das Böse, das sie uns angetan haben, mit Gutem zu vergelten, ihnen zu vergeben, für sie zu beten, denn nur durch die Kraft Gottes, die uns durch das Gebet gegeben wird, können wir dieses große Gebot erfüllen. Wenn wir das Gebot Gottes, unsere Feinde zu lieben, erfüllen, werden wir erst dann erkennen, dass „Gott die Liebe ist“ (1 Jo 4,8). Mögen die Beispiele der christlichen Liebe der heiligen Asketen des Glaubens und der Frömmigkeit jeden von uns zu dieser Tat inspirieren. Amen.“